Freitag, 7. Januar 2011

una ultima

die alte uhr

in einem alten, ehrwürdigen haus steht im flur eine ebenso alte, ehrwürdige uhr. seit vielen generationen steht sie da; sie trägt keine jahreszahl, und niemand weiss genau, wie alt sie ist. auch für ganz alte hausbewohner war sie einfach „immer schon da“.

ihr mit malereien reich verziertes gehäuse ist ein wahres kunstwerk, dessen fülle und pracht schon manchen besucher beeindruckt haben. und jede halbe stunde hallt pünktlich und zuverlässig ihr aus einer wohlklingenden abfolge von mehreren klängen gebildetes schlagen schwer durch das haus. sie ist zeugin von reichtum und freude am schönen.

ihre eigentliche besonderheit aber machen zwei worte aus: über dem zifferblatt, umrahmt von kunstvollen malereien, steht in schönen gotischen lettern geschrieben: „una ultima“ – „eine (stunde) ist die letzte.“ neben der zeitanzeige ist dieser alten uhr also die aufgabe zugedacht, die menschen an ihr sterben zu erinnern, daran, dass ihre zeit nicht endlos so weiterlaufen wird.

eindrücklich ist, dass es nicht ein karges, schmuckloses ührlein ist, das den menschen an seiun ende mahnt, dem er nicht entrinnen kann. nein, mitten aus der barocken fülle, aus reichtum und sinnesfreude kommt dem menschen diese botschaft zu.

so ist es denn keineswegs die aufgabe dieser uhr, dem menschen nahezulegen, sich von der fülle abzuwenden und nur noch traurig und ernst und gebannt auf den tod zu warten; ganz im gegenteil lautet ihre botschaft: „geniesse die fülle mit allen sinnen – denn eines tages wirst du sie nicht mehr geniessen können.“ Oder anders gesagt: „mensch, lebe, damit, wenn einst deine letzte stunde gekommen ist, du dich mit einem grossen reichtum an inneren schätzen auf die reise in die andere welt begeben kannst.“ Oder ganz schlicht: „lebe in fülle, damit du erfüllt sterben kannst.“

text: dr. gabriel looser, *1948, bern

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen