Donnerstag, 27. Oktober 2011

Kommen wir hier noch raus?

Ja, sagt der britische Intellektuelle Tom Hodgkinson. Wir leben zwar im falschen System, aber wir könnten auch anders.
Pause machen und Tee trinken: Tom Hodgkinson
 An diesem Augustabend sind die Regenwolken tiefdunkel und bedrohlich. Ein Traktor älterer Bauart tuckert mit 25 Meilen pro Stunde vor uns her. Überholen unmöglich, wir befinden uns auf einer einspurigen Straße in Devon, einer wilden, wunderschönen Gegend drei Stunden westlich von London. Wenn die Bauern ihre Heuernte nicht heute Abend noch einbringen, müssen sie tage-, vielleicht wochenlang warten, bis die Ballen wieder getrocknet sind. Man kann sich eben nicht immer aussuchen, zu welcher Tageszeit man arbeitet.
Tom Hodgkinson, 43, Journalist, Buchautor, Intellektueller, den ich an diesem stürmischen Abend besuchen will, würde die Notwendigkeiten, die Wind, Wetter und Jahreszeiten mit sich bringen, verstehen, ja gutheißen – und dies, obwohl er ein erklärter Feind der Arbeit ist. How To Be Idle (Anleitung zum Müßiggang) heißt sein Bestseller von 2004, und wenn Hodgkinson für irgendetwas Experte ist, dann für den Ausstieg aus dem Hamsterrad der spätkapitalistischen Wirtschaftsweise. Seine Botschaft, seine Mission, sein Produkt: radikale Systemkritik.
Toms 200 Jahre altes Farmhaus ist aus grauem Granit erbaut und liegt unterhalb eines Höhenzuges, der steil zum Atlantik hin abfällt. Es gibt keinen Handyempfang und auch keine Straßenbeleuchtung in diesem Flecken aus fünf Höfen und einer Kirche. Die einzige Helligkeit dringt aus dem Küchenfenster des Farmhauses. Und dort in der Küche kann man Hodgkinson betrachten wie auf einer erleuchteten Bühne: einen schlanken, dunkelhaarigen Mann in Jeans und T-Shirt, der in aller Seelenruhe allein am Wohnküchentisch sitzt, vor sich ein Pintglas voll Ale und alle Zeit der Welt. Falls er bemerkt, dass zwei seiner drei Kinder (Delilah, neun, und Henry, sechs Jahre alt) zu dieser späten Stunde aufgeregt aus einem Fenster des Obergeschosses spähen, ignoriert er das überzeugend. Kein Wunder. Die zentrale These seines Erziehungsratgebers The Idle Parent (Leitfaden für faule Eltern, rororo, März 2011) lautet, dass die beste Erziehungsstrategie weise Nichteinmischung sei.
Hodgkinsons politischer Standpunkt ist nicht ganz leicht zu fassen: Er selbst bezeichnet sich als Anarchisten, er ist aber zugleich unhintergehbar ein Produkt der oberen englischen Mittelklasse. Seine Eltern sind erfolgreiche Londoner Journalisten (Daily Mail, Times, Sunday People). Mit Westminster besuchte er eine der teuersten Privatschulen Englands (30.000 Pfund im Jahr), danach studierte er Englische Literatur an der Eliteuniversität Cambridge. Seine Kinder lernen Latein von einem pensionierten Lehrer – privat und über Skype, weil die örtlichen Schulen die alte Sprache nicht mehr anbieten. »Stattdessen haben sie ›Wohlbefinden‹ und ›Informationstechnologische Kompetenzen‹ auf dem Lehrplan«, lästert ihr Vater.
Seit 1993 gibt Tom Hodgkinson eine Halbjahresschrift heraus, die in England jedenfalls unter Linksliberalen Kultstatus erlangt hat: den Idler, den Müßiggänger. Ein vergleichbarer Titel wäre im deutschen Markt einigermaßen schwer vorstellbar. Die Thesen, die Hodgkinson in seiner Zeitschrift und in seinen Büchern diskutiert und diskutieren lässt, sind auf eine ausgesprochen fröhliche (und in Deutschland ebenfalls kaum vorstellbare) Weise kulturkonservativ. »Der Zweck dieses Buches«, schreibt er in seinem Vorwort zu How To Be Idle, »ist es... die Arbeitskultur der westlichen Welt anzugreifen, die so viele von uns versklavt, demoralisiert und deprimiert hat.«
 
»Unsere Gesellschaft«, sagt Hodgkinson – da hat er mir gerade ein Bier eingeschenkt, eine Pizza in den Holzofen geschoben, vier Labradorwelpen aus der unglaublich schmutzigen Küche geworfen und ein etwas mickriges Hühnerküken im Brutkasten aufmunternd angestupst –, »unsere Gesellschaft leidet an Gier, Konkurrenz, einsamem Streben, Grauheit, Schulden, McDonald’s und GlaxoSmithKline. Wir leben im falschen System. Wir müssen uns befreien von Sorgen, Angstzuständen, Hypotheken, Geld, Schuldgefühlen, Schulden, Regierungen, Langeweile, Supermärkten, Rechnungen, Melancholie, Schmerz, Depressionen und Verschwendung.«
Chefs, Karrieredenken, Finanzmärkte und politisch korrekter Fortschrittsglaube sind Hodgkinson zuwider, und er bemüht den zum Katholizismus konvertierten Autor Gilbert Keith Chesterton (1874 bis 1936; berühmt für seine Kriminalgeschichten über den sympathischen Helden Father Brown) als einen von vielen Kronzeugen dafür, dass die Anweisungen für das gute Leben eher in der Vergangenheit als in der Zukunft zu finden seien. »Wir können entweder rückwärts schreiten in Richtung Freiheit«, schrieb Chesterton mit Blick auf die moderne Industriegesellschaft, »oder vorwärts in Richtung Sklaverei.«
Hodgkinson verehrt das Mittelalter als eine Zeit der Fröhlichkeit, der ganzheitlichen, nicht entfremdeten Arbeit, des stolzen Handwerkertums, der Gilden, der heilen Dorfgemeinschaft, der jahreszeitlichen Feste ums flackernde Kaminfeuer oder um den Maibaum. Ohne Zweifel eine ganz und gar unverantwortliche, historisch falsche Idealisierung, die Schmutz, Krankheit, Brutalität, Hunger, Not, Unterdrückung und Unwissenheit schlicht ausblendet. Aber: Diese Verklärung einer fernen, besseren Vergangenheit hat in England Tradition, nicht die schlechteste: von der Arts-and-Crafts-Bewegung des Sozialisten William Morris (1834 bis 1896) über die Ästhetik der Präraffaeliten (Maler wie Dante Gabriel Rossetti, John Everett Millais oder Edward Burne-Jones) bis zu populären Autoren wie dem bereits erwähnten Chesterton, zu J. R. R. Tolkien (Der Herr der Ringe), Kenneth Grahame (Der Wind in den Weiden) oder Richard Adams (Watership Down).
Das Gefühl, dass eine teuflische Kombination aus Puritanismus und industrieller Revolution das »alte England« ruiniert und verwüstet habe, ist ein Grundmotiv der britischen Literatur. Die moderne Fixierung des Landes auf Finanzdienstleistungen macht nichts besser: Sie hat nur die trostlose Fabrik gegen das trostlose Büro ausgetauscht. Und wer sich in den heruntergekommenen Zentren ehemaliger Industriestädte wie Manchester oder Birmingham umschaut (oder in den Londoner Stadtteilen Tottenham, Lewisham, Hackney und Croydon, wo jüngst die Krawalle eines deklassierten Jugendproletariats tobten), der mag sich schon fragen, ob das Mittelalter wirklich so viel schlimmer gewesen sein kann.
Hodgkinsons erklärte Feinde sind jedenfalls die Puritaner – zum Beispiel der Reverend John Clayton, der 1755 in seinem »Freundlichen Rat an die Armen« frühes Aufstehen als wichtigste Strategie gegen Not empfahl; oder der Methodist John Wesley, der allzu langen Schlaf als gesundheitsschädlich diffamierte; besonders natürlich der amerikanische Verfassungsvater Benjamin Franklin, dem der Aphorismus »Early to bed and early to rise / makes a man healthy, wealthy and wise« zugeschrieben wird. Eine ebenso steile wie fragwürdige These, aber bis heute wirksam und verantwortlich dafür, dass frühes Zubettgehen und harte Arbeit als tugendhaft und gottgefällig gelten. Alles nur Ideologie, um die Armen in die Fabriken zu treiben, meint Hodgkinson: Daher sein Eintreten für rebellische »Faulheit«, das natürlich eine Pose ist.
Hodgkinson selbst ist alles andere als faul: Neben seiner Herausgebertätigkeit, seinen Büchern, seiner sporadischen Kindererziehung, dem Holzhacken und der Bewirtschaftung seines »katastrophalen bäuerlichen Kleinbetriebs« betreibt er mit seiner Frau Victoria seit März einen Buchladen mit Café und Veranstaltungszentrum im szenig-etablierten Londoner Stadtteil Notting Hill. Der Laden könnte – samt Holzfußboden, Kirchenbänken, handgeschreinerten Regalen und Orientteppichen – direkt aus dem entsprechenden Film mit Hugh Grant und Julia Roberts stammen. Dort residiert auch die Idler Academy für gepflegtes Nichtstun, Camping, Stickarbeiten und mittelalterliche Musik (um nur einen Teil des Curriculums zu nennen). Es wird klar: Mit »Faulheit« meint Hodgkinson nur den Verzicht auf entfremdete Arbeit, Lohnsklaverei, Nine-to-Five-Jobs, Pendlerschicksale, Marketinggequatsche, Meetings, hastig verzehrte Sandwiches zum Mittagessen, Konsum als Trostpflaster für ein uneigentliches Leben und Schulden, um den Konsum zu bezahlen.
Tom Hodgkinson ist eine Art Jamie Oliver des Antikapitalismus. So wie Jamie den praktisch revolutionären Gedanken durchsetzte, dass jeder Einzelne die Chance hat, durch Kochen gegen die Fast-Food-Monokultur zu rebellieren, betrachtet Tom die Phänomene des spätkapitalistischen Alltags und fragt: Muss das so sein? Wer hat verfügt, dass die Arbeit am besten um neun Uhr morgens beginnt? Wer kann beweisen, dass moderne Kommunikationstechnologien Zeit sparen? Wer sagt, dass man Karriere machen und seine Kollegen in Grund und Boden konkurrieren muss? Wer hat den Tod des produktiven Zwei-bis-drei-Stunden-Mittagessens mit drei Martinis auf dem Gewissen? Wer hat den Mittagsschlaf verboten? Warum lassen wir uns schlecht behandeln, wenn wir unser Konto überzogen haben, obwohl die Bank sich just daran dumm und dämlich verdient? Und warum – warum? – kaufen wir von unserem eigenen, schwer verdienten Geld das Lieblingsinstrument aller Sklaventreiber: einen Wecker? Hodgkinsons Empfehlung gegen all diesen Wahnsinn lautet: Hört auf zu jammern! Kündigt eure Jobs, arbeitet frei oder in Teilzeit! Lernt ein Handwerk, gründet ein Geschäft, baut Gemüse an, zerschneidet eure Kreditkarten! Zieht aufs Land, wo alles billiger ist. Backt Brot, spielt Ukulele!
Die Einwände gegen dieses lebensreformerische Programm liegen auf der Hand: Ist es nicht, erstens, total naiv? Kann die Wirtschaft so funktionieren? Na bitte. Und ist es nicht, zweitens, auch zynisch – angesichts von Arbeitslosigkeit, sozialen Spannungen, der mangelnden Bildung vieler Jugendlicher, der Angst der Mittelschicht vor dem wirtschaftlichen Abstieg? Zum Naivitätsvorwurf sagt Hodgkinson, er sei das Gerede über »Realismus« und die »wirkliche Welt« einigermaßen leid. Was mache denn die »wirkliche Welt« aus: fette Gewinne für Geschäftsleute? Oder doch eher »Dichtung, Freunde, Natur, Gott«? Der zweite Vorwurf ist ihm zu sozialdemokratisch-paternalistisch. Prinzipiell hält er jeden Menschen für fähig, Verantwortung für sein eigenes Leben zu übernehmen. Selbstbestimmung hat freilich ihren Preis, und Hodgkinson benennt ihn klar: Grundlage für ein freies Leben ist radikaler Konsumverzicht.
 
Dabei geht es nicht darum, allen Vergnügungen zu entsagen – aber man darf sich von seinen falschen Bedürfnissen nicht überwältigen lassen. Das heißt: Weg mit Auto, teuren Reisen, iPods, Prada-Gürteln und vor allem: weg mit dem Fernsehapparat! »Das Medium ist die Botschaft«, sagt Hodgkinson, den kanadischen Medienwissenschaftler Marshall McLuhan zitierend. »Und die Botschaft lautet: Bleib in deinem seelentötenden Job, und verschleudere dann dein Gehalt und deinen Kredit für teuren Müll!« Für gehetzte Mittelschichtsangehörige, die der Last des kostspieligen Lebens überdrüssig sind, ist der Verzicht ohne Zweifel eine attraktivere Vorstellung als für Menschen, die immer mit jedem Penny rechnen mussten. Aber wird das Konzept des individuellen Downsizing dadurch falsch? Auch wer sehr wenig hat, kann vermutlich besser in einer Gesellschaft leben, die Materielles nicht allzu sehr vergötzt.
Am nächsten Morgen zeigt sich: Das Brutkastenküken hat leider die Nacht nicht überstanden. Delilah und Henry tragen das mit Fassung, sie haben schon gelernt, dass eine Farm kein Disneyland ist. Zum Frühstück gibt es, selbstverständlich, frisch gebackenes Brot und Eier von den eigenen Hühnern. Noch immer beschäftigt uns die Frage, ob Toms Ideen nicht vor allem luxuriöse Mittelklassefantasien sind: Offenkundig haben es ja Schriftsteller, Künstler und alle Arten von Freiberuflern leichter, ein Leben außerhalb des Systems zu wagen, als Verkäuferinnen, Busfahrer, Call-Center-Mitarbeiter oder Polizisten. Viele, gerade besonders harte oder besonders langweilige Arbeiten erfordern nun einmal körperliche Anwesenheit. Doch auch wer auf diese Art von Broterwerb angewiesen ist, gewinnt größere Freiheit, wenn er sich nicht für einen Flachbildschirm in zusätzliche Schuldknechtschaft begibt.
Und würde nicht eine nennenswerte Idler-Bewegung die Arbeitsbedingungen auch für alle anderen verbessern – weil Arbeitgeber lernen müssten, dass nicht mehr jeder Mitarbeiter unter den abenteuerlichsten Bedingungen zu haben ist? Hodgkinson sieht sich oft dem Vorwurf ausgesetzt, er sei privilegiert, für ihn sei es ja leicht. Womöglich. Aber warum machen es dann nicht mehr Privilegierte wie er? Im Übrigen wird er nicht müde zu betonen, dass er jeden Penny, den er ausgibt, selbst verdient hat. Das alte Haus in Devon mietet er, weil seine Familie dort für einen Bruchteil des Geldes leben kann, das sie in London ausgeben müsste. Das – zum Teil sehr charmante – Mobiliar stammt überwiegend von Flohmärkten. Die langen Bänke am Küchentisch fand Hodgkinson in einem Nebengelass der Kirche.
Sein Programm könnte unerträglich sein, wenn er dabei asketisch und entsagungsvoll aufträte. Aber genau das tut er nicht: gutes Essen, gutes Trinken, gute Bücher, Freunde und Feste stehen im Zentrum seiner Ideen. Es geht ihm um eine Konzentration auf das Wesentliche. Und er behauptet, dass man sich all dies relativ mühelos leisten könne, wenn man sich von der Plastikwelt abwende, Bücher secondhand kaufe und sein eigenes Gemüse anbaue.
Außerdem ist er herrlich inkonsequent. In seiner Buchhandlung gibt es Idler-Merchandising: Buttons, Becher mit Slogans, T-Shirts mit dem Aufdruck »Work Kills« – seine Kritiker sehen darin schon einen Schritt auf die dunkle Seite des Kapitalismus. Natürlich hat er seinen Kindern säckeweise nutzloses Plastikspielzeug geschenkt, weil er ihrem Gequengel nachgab. Toms Gemüsegarten, das gepriesene Herzstück des Aussteigerhofes, sieht in diesem verregneten Jahr einfach schrecklich aus: von Schnecken angenagter Spitzkohl, daniederliegende Erbsenpflanzen, ins Kraut geschossener Kohlrabi. »Ich hatte einfach keine Zeit, mich darum zu kümmern«, sagt der Faulheitsguru zerknirscht. Auch das Pony ist entkommen, niemand hatte bisher Gelegenheit, es einzufangen, und so wuchern die Rasenflächen ums Haus immer mehr zu. Zum Abschied essen wir einen traditionellen Lunch im Hunter’s Inn, dem örtlichen Pub. Wenn Delilah und Henry nicht die anderen Gäste mit ihren geräuschintensiven Fangspielen terrorisieren würden, könnte man sich im 19. Jahrhundert wähnen. Auf den Terrassen wandern Pfauen. Das Unwetter ist vorbei, die Berge von Devon leuchten heidelila. Aber es ist der 5. August 2011, und alle müssen wieder nach London.
 
In Tottenham passiert mein Taxi den Schauplatz der Schießerei, von dem aus die Londoner Unruhen der vergangenen Wochen ihren Ausgang nahmen. Der Flughafen Heathrow ist voller gehetzter, mobil telefonierender Menschen. Über endlose Laufbänder werden wir zu den Outlets für überteuerte Burger, überteuerte Balik-Lachs-Anrichtungen und überteuerte Handtaschen transportiert. Die britischen Zeitungen titeln »Schwarzer Freitag«, »Märkte weltweit im Aufruhr« und »Börsen im freien Fall«. 17.20 Uhr nach Hamburg.
Wer lebt richtig? Wer hat recht? Was ist die Wirklichkeit?

quelle: zeit online

Diesen Artikel finden Sie als Audiodatei im Premiumbereich unter www.zeit.de/audio

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen